Warum KLEINBILD-STEREOSKOPIE?

Nach seiner Erfindung im Jahr 1833 war das Stereoskop oder Raumglas zunächst nur eine Sache der Wissenschaftler. 25 Jahre später um 1858 fehlte es als Attraktion auf keiner größeren Ausstellung. Wiederum ein Viertel- jahrhundert weiter um 1883 - also immer noch vor der Erfindung etwa des Films, des Dieselmotors oder der drahtlosen Telegraphie - fanden sich prunkvoll mit Mahagoni verkleidete „Salon-Stereoskop“ in fast jeder „Guten Stube". Nochmals 25 Jahre später um 1908 aber war es zum Zugabeartikel, beispielsweise zu Süßigkeiten, herabgesunken und wurde, wie unser aus den zwanziger Jahren stammendes Bild zeigt, als allenfalls lehrreiches Spielzeug zum Selbstbau „für brave Knaben" empfohlen.

Die wenig bekannte Tatsache, daß die Stereoskopie - vom griechischen „Raumsicht" - älter ist als die Fotografie, nimmt man heute mit Staunen zur Kenntnis. Tatsächlich waren die ersten Stereobilder mühsam von Hand darboten, wie jedes von beiden Augen des Zeichners für sich den wirklichen Gegenstand erblickte. Die Erfindung der Lichtbildkunst bedeutete daher auch für das Raumbildwesen einen ganz beträchtlichen Fortschritt. Aber es war und blieb doch recht schwer, solche fotografischen Stereobilder selbst anzufertigen. Bis fast zur Jahrhundertwende befaßten sich im wesentlichen nur Bildverlage mit der Anfertigung von Stereobildern, und nur ganz selten wurden „persönliche" Stereoaufnahmen gemacht. Das hatte seinen Grund darin, daß die Stereoaufnahme zur Zeit unserer Großeltern eine recht kostspielige Sache und außerdem ziemlich umständlich war. Der Umgang mit den früheren, kurz vor der Aufnahme selbst zu beschichtenden Glasplatten setzte schon ein großes Maß chemischer Kenntnisse voraus, und selbst nach Einführung der Trockenplatte und später sogar des Rollfilms blieb doch zumindest die Bildauswertung, d. h. also die Montage der Bildpaare, eine Angelegenheit von Spezialisten oder nur über viel Freizeit verfügender ernster Liebhaber. Besonders der Film aber ließ das Interesse an „unpersönlichen" Stereobildern der verschiedenen Spezialverlage erlahmen.

Diese Sachlage änderte sich grundsätzlich erst mit dem Aufkommen des perforierten Kleinbildfilms, der auch auf anderen Gebieten vor ganz neue Möglichkeiten stellte. Büßten die etwas größeren Rollfilmformate dadurch auch kaum etwas an Bedeutung ein, so ergab insbesondere die international einheitliche Lochung des Kleinbildfilms nun aber die Möglichkeit, die besonders mißliche Stereobildmontage gewissermaßen zu automatisieren, indem man Filmlochung und Bildinhalt schon in der Kamera zueinander in Beziehung setzte. Dies ist auf sehr unterschiedliche Weise gelöst oder bewußt außer Betracht gelassen worden - in jedem Fall aber bot es für die neuerliche Hinwendung zur Stereofotografie einen bedeutenden Auftrieb.

Es kam der Farbenfilm - zunächst nur im Kleinformat und als Diapositiv - (Umkehr-) Material, das ohnehin durch besondere Betrachter oder spezielle Bildwerfer gezeigt und betrachtet werden mußte. Was lag näher, als insbesondere die Betrachtungsgeräte auf den Gebrauch beider Augen abzustimmen und dadurch bei stereoskopischem Bildmaterial gleich noch die dritte Dimension des Raums hinzuzugewinnen, die dem „Flachbild“ unmittelbar doch verloren geht. Der „plastischen" Wirkung als solcher kam die in Betrachtern und Projektoren gegenüber dem Papierbild ausgeschaltete Umfeldbeleuchtung nur entgegen, und eigentlich ist es erstaunlich, daß es doch wiederum rund 25 Jahre gedauert hat, bis diese schon frühen Erkenntnisse auch Allgemeingut werden.

Es kommt weiter hinzu, daß man im Stereobild stets die ganze Tiefe des dargestellten Raums scharf abgebildet haben muß, damit der Blick - dem freien Sehen entsprechend - wandern und die gemeinhin verlorene Tiefendimension voll auskosten kann. Große Tiefenschärfe war aber bei den alten Großformaten der ersten und späteren Stereokameras nur mit starker Abblendung und damit also langen Belichtungszeiten zu erkaufen. Rasch bewegte Objekte ließen sich folglich stereoskopisch nur teilweise ausschöpfen - künstlich erstarrte Objekte aber wirken unnatürlich und lassen das Stereobild leicht an Panoptikumsszenen erinnern. Sollten die Bildwinkel gleich bleiben, so mußte man ganz zwangsläufig beim Kleinformat auf kurze Brennweiten kommen; kurze Brennweiten aber haben den Vorteil größerer Tiefenschärfe und unterstützen also auch von dieser Seite her gerade das kleinformatige Stereobild. Der praktisch so gut wie kornlos gewordene (Farbumkehr-) Film läßt die dadurch wiederum notwendig stärkere Rückvergrößerung in optischen Betrachtungsgeräten oder in Stereoprojekten durchaus zu, und bedenkt man die ganz verblüffend andere Wirkung stereoskopischer Farbdias gegenüber etwa amateurmäßigen Papierabzügen, so ist die heutige Neuausbreitung der Stereofotografie in aller Welt eigentlich gar nicht verwunderlich.

Eine Menge Dinge technischer, geschäftlicher, organisatorischer und anderer Art waren und sind indessen zu bedenken, und so ist es auch zu erklären, daß das „Umschalten" von Flach- auf Stereofotos wohl stetig, aber - zumindest hierzulande - nur langsam voranschreitet. Sind doch vielerorts noch mannigfache Vorurteile zu überwinden, die insbesondere den Älteren bei Erinnerung an jene früheren Stereobilder im Plüschsalon von Anno dunnemals im Gedächtnis haften. Immerhin ist aber bereits eine Geräteauswahl von etwa 20 verschiedenen Stereogerätschaften modernster Form nun auch schon in Deutschland verfügbar und macht demjenigen, der auch nur einmal in die Stereoskopie „hineinriechen" will, einen solchen Versuch einfach und lohnend.

Wenn man daher beim Durchblättern alter Zeitungen und Zeitschriften feststellt, daß ein großer Bildverlag zur Zeit der ersten Blüte der Stereoskopie lange das Schlagwort „Kein Haus ohne Stereoskop“ propagierte, so sollte man heute zumindest „Kein Fotograf ohne Stereokenntnisse" sagen. Denn durchwegs im Althergebrachten festzukleben scheint nicht in allen Fällen angebracht, und schon der auch um die Vorgeschichte der Stereoskopie hochverdiente Leonardo da Vinci hatte den heute wie ehedem beherzigenswerten Leitsatz: „Nichts soll man jemals lieben oder hassen, bevor man es nicht kennt!"

 Aus KLICK Informationen für Foto-Freunde April 1953 W. Selle