Der gegenwärtige Stand der LIEBHABER-STEREOSKOPIE in Deutschland.

Der Deutsche neigt bekanntermaßen dazu, alles vom Ausland Kommende zu überschätzen und darüber die besten Erzeugnisse einheimischer Arbeit zu vernachlässigen. Dieser nationale Fehler entbehrte nun leider auf dem Gebiet der Stereophotographie nicht ganz der Berechtigung. Ich habe schon zu einer Zeit im Ausland das Fortschreiten der Stereoskopie zu verfolgen Gelegenheit gehabt, wo die Amateurphotographie bei uns im allgemeinen noch in den Kinderschuhen stand und die Leistungen im Ausland sowohl vonseiten der Firmen (z. B. Jules Richard in Paris) wie vonseiten der Ausübenden schon bessere waren als zehn Jahre später in Deutschland. Die Grundgesetze für den Bau von Stereokameras zum Amateurgebrauch waren z. B. in Frankreich schon Erfahrungssache, als in Deutschland angesehene Firmen noch Stereoapparate bauten, die stereoskopisch falsch konstruiert waren, oder wo z. B. die zu einer bestimmten Kamera passend sein sollenden Kopierrahmen die Bilder in falschem Abstand kopierten usw.

Wenn nun heute ein literarisch hochstehender Verlag sich zur Herausgabe einer Stereo-Fachbeilage entschlossen hat, so hat das seine guten Gründe und bildet hoffentlich den Auftakt zu einer allgemeineren Verbreitung dieses so überaus dankbaren und aparten Spezialgebietes. Vor allem möchte ich eines mit Nachdruck betonen: unsere photographische Industrie ist jetzt auch in bezug auf Herstellung von Stereokameras und deren Zubehör nicht nur auf dem Laufenden, sondern hat alle ausländischen Erzeugnisse an Güte, Zweckmäßigkeit und Schönheit der Apparatur überholt. Wer ein Prachtstück deutscher Photoindustrie, wie z. B. das Heidoskop besitzt, für den sind, was Apparatur betrifft, alle Vorbedingungen zu sehr guten Leistungen erfüllt, und es läge aus diesem Grund alles andere eher vor als ein Anlaß, die Stereoskopie zu meiden wie bisher.

Da liegt also der Hund anderswo begraben, nämlich in der Angst, Stereoskopie könnte schwerer oder umständlicher sein als die einäugige Aufnahme. Und dann kommt noch - besonders bei der Damenwelt - die Scheu vor allem dazu, was nach „Rechnen" ausschaut, wie „Tiefenschärfe", „Belichtungsmesser", „Verlängerungsfaktor", „Augenabstand" usw. Und auch in dieser Richtung befürchtet der Laie bei Stereo mehr als bei der einfachen Aufnahme.  Dem ist aber nicht so: als Praktiker versichere ich Ihnen: 90 Prozent aller Aufnahmen, die für die einäugige Kontaktkopie als zu schlecht verloren sind, kommen als Stereobild noch zur Geltung. Wenn sich alle Amateure, die sich zu den „Knipsern" und „Mittelmäßigen" zählen müssen, - aber dazu gehört natürlich keiner! - über diesen großen Vorzug der Stereoskopie im Klaren wären, dann wäre unsere Gilde bald im Wachsen begriffen.

Und was die Schwierigkeit der Aufnahme und Ausarbeitung anlangt, so besteht eine solche gar nicht oder wenigstens nicht mehr, als bei der einäugigen Aufnahme auch. In der Stereoskopie gibt es nämlich nur ein Hauptgesetz, dem sich alles andere unterordnet: „Tiefenstaffelung". Einwand: „Das ist nun wieder so was Rechnerisches". Durchaus nicht! Es besagt bloß: „Sorge dafür, daß Vorder-, Mittel- und Hintergrund da ist, d. h. daß sich die aufzunehmenden Objekte nach der Tiefe erstrecken. Darauf zu achten, wird Dir bereits nach dem ersten Dutzend Platten oder Filme geläufig sein. Als Beispiel: Von einem Gemälde oder Plakat kann ich keine Stereoaufnahme machen, weil alles in einer Ebene liegt, wohl aber von einer Person, die dieses Plakat betrachtet, mit diesem zusammen.

Für seine geringe Mühe wird aber der Stereoskopiker durch den ungleich höheren Genuß und die geradezu ideale Erinnerungsvermittlung seiner Bilder belohnt.

Aus Vorstehendem möge jeder Einsichtige den Schluß ziehen, daß die Stereoskopie ganz mit Unrecht bisher ein Stiefkind deutscher Gunst war, und daß sie viel apartere und modernere Leistungen - und wer möchte das heute nicht! - ermöglicht als die Aufnahme mit nur einem Kamera-Auge. Die Wissenschaft hat sich schon längst aus Überzeugung - sowohl für astronomische wie terrestrische Zwecke - der Stereoskopie bemächtigt, nur der Amateur will noch nicht recht daran; aber auch er wird bekehrt werden, wenn er erst ihre Möglichkeiten kennt.

Aus DER STEREOSKOPIKER, Nr. 2 vom 15. Februar 1930. Organ der DEUTSCHEN GESELLSCHAFT FÜR STEREOSKOPIE e.V. Franz Böhm.  Text überarbeitet von D. Schulte)